Dorfgemeinschaft Dreisel

Wie war es eigentlich, wenn man in den 1950er Jahren als Kind in Dreisel aufwuchs? War das Leben auch für Kinder nur beschwerlich und streng geregelt? Wie gingen die Dreiseler eigentlich mit Fremden um, die z.B. als Kriegsflüchtlinge aus dem Osten kamen?

Brunhild Heiden, die nach der Flucht ihrer Familie aus Ostpreußen über verschiedene Zwischenstationen nach Dreisel kam und deren Eltern hier dann den ehemaligen Christgen-Hof (heute Bernhard Schmidt) übernahmen, erinnert sich, dass sie hier von den Einheimischen durchaus freundlich aufgenommen wurde. Dass sie neu im Dorf war, bemerkte sie nur daran, dass die anderen Kinder sie anfangs oft mit den Worten begrüßten: „Do kütt de neue Buur...". Als Bauernkind musste sie im Sommer oft schon bei Sonnenaufgang um 4 Uhr mit ihren Eltern auf die Wiesen zum Heu machen. Dann erst gab es Frühstück und anschließend ging es in die Schule.

Bernd Overhaus als geborener Dreisel hat für die Frage, ob ihm als Kind sein Leben ärmlich vorgekommen sei, nur ein Schulterzucken übrig: „Darüber haben wir uns keine Gedanken gemacht..." Dabei war sein Elternhaus in der Steinbachstraße so klein, dass es für die Kinder dort gar keine Schlafplätze gab. Abends musste er mit seinen Geschwistern zum Schlafen immer einige Häuser weiter zum Haus seines Onkels Anton Overhaus, dem Schreiner, gehen.
In seiner Nachbarschaft in der Steinbachstraße wohnte die Familie Freihuber. Von deren Küche an der Straßenseite des Hauses ging ein Abflussrohr direkt in die Gosse am Straßenrand. Einmal benutzten Bernd und ein paar Freunde dieses natürlich wenig appetitliche Abflussrohr, um der Frau Freihuber einen mächtigen Schrecken einzujagen: sie tröteten mit dem Mund vom unteren Ende des Rohres einen gewaltigen Brummton durch das ganze Haus. Frau Freihuber erschrak sich mächtig und rief nur „Jooosef!" Ihr Sohn, der Freihubers Jupp, rannte den Lausejungs ebenso pflichtschuldig wie erfolglos hinterher. Hätte er sie erwischt, so Bernd Overhaus, hätten sie ein großes Problem gehabt. Aber am nächsten Morgen mussten sie auf dem Weg zur Schule ohnehin wieder an dem Haus vorbei....

Werner Rörig musste mit anderen Kindern zusammen nachmittags die jeweiligen Kühe der Familien (viele Familien hatten etwas Landwirtschaft und Vieh) hüten. Dazu entschloss man sich auf den Sportplatz im Lommerbruch zu gehen und dort ein wenig zu kicken. Die Kühe konnte man in der Nähe mehr oder weniger unbeaufsichtigt grasen lassen. Unterwegs wurden noch ein paar Kartoffeln von einem Acker mitgenommen und ein Feuerchen gemacht zum Garen der Kartoffeln. Es sollte ein netter Nachmittag werden. Allerdings nur so lange, bis einer bemerkte, dass die Kühe nicht mehr da waren. Also mussten sie gesucht werden, denn ohne Kühe wieder heim zu kommen, wäre undenkbar gewesen. Schließlich fanden sie die Viecher wieder, sie hatten sich auf dem Weg in Richtung Leuscheid gemacht. So kamen die Burschen erst lange nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause.

In den schneereichen und kalten Wintern der Vor-Fernseh und –Computerzeit gehörte das Rodeln auch in Dreisel zu den liebsten Freizeitbeschäftigungen der Kinder. Meist wurde, vom Autoverkehr noch fast unbehelligt, in der Steinbachstraße unterhalb der Kapelle gestartet, manchmal auch oben im Dorf am Gasthof „Zillertal". Damit man auf diesen Straßen überhaupt noch gehen konnte, wurde am Rand ein schmaler Streifen mit Asche ein wenig abgestumpft. Wenn es manche Erwachsene mal nicht so gut mit den Kindern meinten, so erinnert sich Christa Seifer, dann streuten sie auch schon mal den Weg in ganzer Breite. Auf dem Foto vom Februar 1955 erkennt man unter anderem Harald Lünenbach; Adelheid Haug (geb. Kammerich); Gerda Kölschbach und Ute Schunke.

Ein typisches „Mädchenfoto" aus der Mitte des 20. Jahrhunderts zeigt „Führmädchen" (oben), die bei Prozessionen vor dem Allerheiligsten hergingen. Wer aber nun glaubt, das Leben der Dreiseler Kinder und besonders der Mädchen hätte sich nur „zwischen Schule und Kirche" abgespielt, der wird durch das Foto von der kleinen Petra auf dem Traktor (ca. 1964) eines Besseren belehrt.

 

Kunibert Simon erinnert sich an ein sehr gefährliches Kindheitserlebnis:

Als gegen Ende des 2. Weltkriegs die amerikanischen Truppen von Leuscheid in Richtung Sieg vorrückten, mussten die Hitler-Soldaten auch ihre Dreiseler Stellungen räumen. Sie hatten in einer Scheune in der Dorfmitte ein Munitionsdepot eingerichtet, das sie bei ihrem überstürzten Rückzug nur sehr unvollständig räumten. Kunibert, Willy Patt und einige andere Burschen versteckten eine größere Menge dieser Munition und brachten sie dann in einem der Bombenkrater auf dem Beuel zur Explosion. Dazu wurde ein Feuer gemacht und dann jeweils ein Patronengurt mit exakt 35 Schuss darin zur Explosion gebracht. Die Jungs zählten aus einem sicheren Versteck mit und hoben die Köpfe erst wieder, wenn es 35 mal geknallt hatte. Einmal sah jedoch der Bauer Christgen bei der Feldarbeit den Qualm eines solchen Feuers im Wald und ging mit seiner Hacke bewaffnet dort hin, als ihm plötzlich die Kugeln aus nächster Nähe um die Ohren pfiffen. An diesem Tag wählten die Burschen klugerweise den unverdächtigen Heimweg über Helpenstell...
Willy Patt als der Anführer der Gruppe wurde einmal durch einen Streifschuss am Bein verletzt, als das Feuer zu früh ausging und er nachsehen wollte, ob alle Patronen explodiert waren. Das war jedoch offensichtlich nicht der Fall gewesen, wie er kurz darauf schmerzhaft erfahren musste. Den Eltern wurde die blutende Wunde dann wohl als „kleine Sturzverletzung" verkauft....
Geraucht haben die Burschen nach Auskunft von Willy Patt zumindest zeitweilig auch wie die Schlote. Die deutschen Soldaten, die teilweise in den Privathäusern einquartiert waren, bekamen offenbar reichlich Rauchwaren zugeteilt. Und so dachten sich die Jungs, dass es wohl nicht schaden könnte, wenn sie sich auch einen Teil davon nehmen würden – fragen konnten sie ja wohl schlecht... Dadurch, dass sie allerdings stets nur sehr wenige Streichhölzer hatten, mussten sie – so Willy Patt – quasi zu Kettenrauchern werden.

 

Hermann Ortmann aus Recklinghausen, ein Vetter von Heinz-Werner Rörig, erinnert sich an seine Sommerferien 1937 bei der Großtante Mienchen und Großonkel Gustav Ottersbach:

Zu Beginn der großen Sommerferien brachte mich meine Mutter mit der „Deutschen Reichsbahn“ mit Dampflok betriebenen Zügen von Recklinghausen nach Bahnhof Schladern an der Sieg. In der Nachbarschaft hatte es sich schnell herumgesprochen, dass da ein fremdes Ferienkind bei „Pittisch“, so wurden die Ottersbachs im Volksmund genannt, zu Gast ist.
Die Kinder versammelten sich auf dem Hof vor der Haustür und ich sollte mich bei herrlichem Wetter mit ihnen anfreunden.
Für mich war das eine Katastrophe. Das Problem war, ich konnte kein Wort verstehen, sie kauderwelschten in ihrem gewohnten Platt. Ich war todunglücklich. Ich bin meiner Mutter weinend um den Hals gefallen und hab gefleht, „Ich will wieder mit dir nach Hause.“ Schließlich kamen Mutter und Tante überein, dass ich meine Ferien in Schladern bei Onkel August und Tante Lene verbringen sollte.
(In Schladern sprach man, so Ortmann „Hochdeutsch mit Knubbeln“ und dort konnte er sich leichter an den heimischen Dialekt gewöhnen.)
Nachdem ich mich sprachlich eingelebt hatte, hat mich der Onkel Josef nach zweiwöchigem Schladernaufenthalt nach Dreisel geholt und ich wohnte dann für den Rest der Ferien bei Großonkel und Großtante.
Durch die frische Landluft und die deftige Hausmannskost hatte ich, vorher ein schmächtiges Kerlchen, sage und schreibe 10 Pfd.  in den gut 3 Wochen Ferienaufenthalt in Dreisel zugenommen. Auch den

Dreiseler Dialekt beherrschte ich vollständig.
Am Ende der Ferien wurde ich von meinem Vater, der sehr erfreut über mein gutes Aussehen war, nach Hause abgeholt.
Vor dem Abschied musste ich aber versprechen, wiederzukommen.